Warum eine Verfassungsrichterin das Netz spaltet – und was unser Gehirn damit zu tun hat
Wenn Namen wie Frauke Brosius-Gersdorf plötzlich die Runde machen und Twitter (äh, X), Kommentarspalten und Threads explodieren, dann geht’s oft um mehr als um die Person selbst. In diesem Fall: eine Juristin, vorgeschlagen für das höchste Gericht Deutschlands – das Bundesverfassungsgericht. Aber was folgt? Kein sachlicher Austausch, sondern ein digitaler Sturm aus Meinungen, Halbwissen und heftigen Reaktionen. Warum?
Hinter solchen Shitstorms stecken keine bösen Algorithmen allein – sondern verdammt menschliche Reflexe. Psychologische Effekte sorgen dafür, dass das Netz öfter lodert als leuchtet. Schau dir mal an, was dahintersteckt.
Der Bestätigungs-Bias: Wir finden, was wir finden wollen
Unser Gehirn liebt es simpel: Was zu unserem Weltbild passt, nehmen wir als Bestätigung – alles andere wird ignoriert oder umgebogen. Der Bestätigungs-Bias sorgt dafür, dass dieselbe Info zwei völlig verschiedene Reaktionen auslösen kann. Die einen feiern Brosius-Gersdorf für ihre Grundrechts-Expertise, die anderen sehen sie kritisch wegen ethischer Gutachten zur Sterbehilfe. Und beide beziehen sich auf dieselben Fakten.
Filterblasen und Echokammern: Mein Feed, mein Maßstab
Social-Media-Plattformen zeigen dir das, was du magst. Guter Service – aber verdammt einseitig. So entstehen Echokammern: digitale Räume, in denen alle ungefähr gleich ticken. Deine Meinung? Klingt hier wie Volkssprache. Das macht sie bloß nicht richtiger – es fühlt sich nur so an.
Und plötzlich wirkt jede Diskussion glasklar: Alle sind deiner Meinung. Spoiler: Sind sie nicht.
Kognitive Dissonanz: Das unangenehme Ziepen im Kopf
Wenn neue Infos nicht mit dem vereinbar sind, was wir denken, fühlt sich das komisch an. Dieses Ziepen nennt man kognitive Dissonanz – und viele umgehen es, indem sie lieber gar nicht hinsehen oder Argumente abwerten. Wer die Verfassungsrichterin vorher noch nie gehört hat, aber ein ungutes Gefühl bekommt, denkt sich: „Irgendwas muss da dran sein.“ Das beruhigt – selbst wenn’s nicht stimmt.
Gruppenpolarisierung: Gemeinsam lauter, gemeinsam extremer
Alle in deiner Timeline sind sich einig: „Das geht gar nicht!“ Und bevor du’s dir versiehst, bist du mitten drin – nicht nur zustimmend, sondern noch eine Spur radikaler. Das nennt sich Gruppenpolarisierung. In Gruppen wird aus „Hmm, irritierend“ schnell „Untragbar!“
Und weil Kontra schnell als Angriff gilt, sagen viele lieber nichts mehr – oder schreien kräftig mit. Willkommen im Groupthink.
Dunning-Kruger: Warum so viele plötzlich Verfassungsjuristen sind
Du hast zwei Artikel gelesen und ein Jura-Tutorial geschaut? Herzlichen Glückwunsch – aber du bist trotzdem kein Experte. Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt genau das: Menschen mit wenig Wissen überschätzen ihre Expertise. Die echte Fachwelt äußert sich seltener, überlegter – und entscheidend leiser.
Der Beruf einer Verfassungsrichterin ist anspruchsvoll. Und doch scheint gefühlt jeder klar zu wissen, ob jemand geeignet ist oder nicht. Selten stimmen da Einschätzung und Kompetenz überein.
Emotionen viral: Warum Wut besser klickt
Emotionen stecken an – und online schneller denn je. Ein gefährlich formulierter Post zum Thema reicht, und die emotionale Ansteckung nimmt ihren Lauf. Empörung klickt, Trauer packt, Wut zieht. Kein Wunder, dass ein kurzer Tweet mehr auslöst als eine differenzierte Analyse.
Algorithmen lieben starke Gefühle – sie verlängern die Bildschirmzeit. Was fehlt? Gelassenheit. Oder wenigstens Neugier.
Der Spotlight-Effekt: So groß, so laut – aber auch so wichtig?
Ist die Aufregung echt oder nur groß in deiner Blase? Der Spotlight-Effekt sorgt dafür, dass wir überschätzen, wie viele Menschen sich mit einem Thema beschäftigen. Klar, es wird viel gepostet, gegoogelt, kommentiert – aber außerhalb von Twitter interessiert’s kaum jemanden?
Trotzdem fühlt es sich an wie ein landesweiter Aufschrei. Dabei lodert das Feuer oft nur in wenigen Ecken des Internets.
Verfügbarkeitsheuristik: Sichtbarkeit = Relevanz?
Was oft auftaucht, stufen wir als „wichtig“ ein. So funktioniert die Verfügbarkeitsheuristik: Wenn ein Thema ständig in deiner Timeline ist, wirkt es größer, dringlicher, bedeutsamer. Doch das täuscht. „Groß im Netz sein“ heißt nicht „groß in der Wirklichkeit“.
Parasoziale Beziehungen: Wenn Fremde wie Bekannte wirken
Wir sehen Interviews, Tweets, Fotos – und plötzlich entsteht Nähe. Diese einseitige Verbundenheit nennt sich parasoziale Beziehung. Du „kennst“ die Richterin nicht, aber hast ein Bauchgefühl. Und das reicht oft schon, um für oder gegen sie zu sein.
Je stärker die Bindung – auch wenn sie nur eingebildet ist – desto stärker die Meinung. Egal, wie wenig Hintergrundinfo eigentlich vorliegt.
Warum wir kommentieren: Nicht immer aus Sachkenntnis
Ein Like, ein Kommentar – das bedeutet: Ich bin da. Ich gehöre dazu. Soziale Zugehörigkeit ist ein menschliches Bedürfnis, Likes sind die neue Währung. Dazu kommt unser Gerechtigkeitssinn: Wenn wir etwas für unfair halten, reagieren wir. Manchmal laut. Manchmal vorschnell. Oft emotional.
Das Ganze hat einen evolutionären Sinn – aber online wird daraus ein Dauerstrom impulsiver Reaktionen.
Framing: Was Worte alles anrichten können
Sprache lenkt Gedanken. Wer eine Frau als „Top-Juristin“ beschreibt, ruft ganz andere Assoziationen hervor als beim Wort „umstritten“. Dieses Framing passiert nicht nur durch Medien, sondern auch durch Tweets, Überschriften oder Kommentare. Worte schieben unsere Wahrnehmung – ohne dass wir’s merken.
Wie du ruhiger durch den Shitstorm kommst
- Kurzatmigkeit vermeiden: Vor dem Post: Pause. Kurz durchatmen. Wirklich was beitragen? Oder nur Dampf ablassen?
- Blase platzen lassen: Mal aus der Komfort-Zone raus. Andere Medien ansehen, andere Meinungen lesen.
- Gegencheck im Kopf: Würde ich das auch sagen, wenn ich die Person wirklich kennen würde?
- Fakten filtern: Nicht alles glauben, was catchy klingt. Fachleute suchen hilft – sie posten nur seltener.
Was bleibt?
Online-Aufregung entsteht schnell – manchmal schneller, als wir scrollen können. Doch oft geht’s dabei nicht um Fakten, sondern um Emotionen, Selbstbestätigung und das große Bedürfnis, dazugehört zu werden. Psychologische Effekte wie der Bestätigungs-Bias oder Gruppenpolarisierung heizen das an.
Du bist also nicht kompliziert oder defekt, wenn du dich mitreißen lässt. Du bist einfach Mensch. Aber je mehr du diese Mechanismen erkennst, desto besser kannst du dich fragen: Muss ich jetzt wirklich was sagen? Oder reicht es, einmal bewusst den Feed zu schließen?
Zwischen Meinung und Empörung liegt manchmal nur ein Gedanke – und der kann ziemlich mächtig sein.
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